Wissenschaft und Politik

Antisemitismus an Schulen in Deutschland

Zentralrat der Juden: Josef Schuster im Interview

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 kam es weltweit zu einem starken Anstieg antisemitischer Vorfälle. Auch an den Schulen stehen die Lehrkräfte vor einem massiven Antisemitismusproblem. Wir haben den Präsidenten des Zentralrats der Juden Josef Schuster zur aktuellen Situation sowie den Problemen und Möglichkeiten der Schulen befragt.

 

IfT: Der israelische Präsident Jitzchak Herzog hat kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober auf die erschreckende Tatsache hingewiesen, dass seit der Shoah nicht mehr so viele jüdische Menschen an einem Tag ermordet wurden, wie an jenem Samstag. Seither ist es trotz zahlreicher Solidaritätsbekundungen weltweit und in Deutschland dennoch zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle gekommen. Können Sie uns skizzieren, wie die Situation für die jüdische Community in Deutschland derzeit aussieht?

Josef Schuster: Jüdinnen und Juden stehen unter enormem psychologischem Druck, da sie den Terror der Hamas in Israel und den darauffolgenden Krieg verarbeiten müssen. Für Juden in aller Welt ist Israel ein sicherer Hafen, der nun angegriffen wird. Gleichzeitig sind sie der Bedrohung durch den wachsenden Antisemitismus in Deutschland ausgesetzt. Dabei fühlen sich die Jüdischen Gemeinden im Grunde von staatlicher Seite gut geschützt. In einer Umfrage des Zentralrats unter den Jüdischen Gemeinden gaben mit 96 Prozent nahezu alle der befragten Gemeinden an, zufrieden mit der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden zu sein. Dazu passt es, dass neben der Politik und den lokalen Kirchengemeinden auch die Polizei laut der Befragung zu den wichtigsten Partnern der Jüdischen Gemeinden gehört. Aber das Ergebnis ist ambivalent. Gleichzeitig gibt mit fast 80 Prozent die große Mehrheit der Gemeindevorstände an, dass es seit dem 7. Oktober spürbar unsicherer geworden ist, in Deutschland als Jude zu leben und sich vor allem so zu zeigen. Leidtragende sind vor allem jüdische Senioren, Familien mit Kindern und Jugendliche. Ein Drittel der Gemeinden hat in den vergangenen Wochen antisemitische Angriffe erfahren, die von Schmierereien bis hin zu persönlichen Beleidigungen reichen. Unisono wurde der psychische Druck über Drohanrufe und Drohmails angegeben.
 

„Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten ganz gleich welcher Couleur unser Gemeinwesen gefährden.“
 

Aus dem Lagebild lese ich ein großes Vertrauen der Jüdischen Gemeinden in die lokalen politischen Institutionen sowie die Sicherheitsbehörden. Dass es trotz dieses Vertrauens eine hohe Verunsicherung in den Gemeinden gibt, ist ein Warnsignal für die gesamte Gesellschaft. Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten ganz gleich welcher Couleur unser Gemeinwesen gefährden.

IfT: In der Jüdischen Allgemeinen war Mitte Dezember zu lesen, dass die Antisemitismus-Beratungsstelle Ofek seit dem 7. Oktober seitens der Schulen und Universitäten „zu mehr antisemitischen Vorfällen um Beratung gebeten [wurde] als je in einem Jahr zuvor.“ Und so geht es auch vielen anderen Beratungsstellen zum Thema. Wie geht es den jüdischen Kindern und Jugendlichen an den Schulen im Moment?

Schuster: Etliche Eltern haben Angst ihre Kinder zur Schule zu schicken. Jüdische Schülerinnen und Schüler erlebten bereits vor dem 7. Oktober Antisemitismus durch explizite Äußerungen, Beleidigungen, durch Stereotypisierungen, durch Ausgrenzungen, durch Exotisierung, sowohl von Lehrer- als auch von Schülerseite. Sie erleben ihn verbal oder physisch. Und derzeit hat das Ausmaß von Antisemitismus an Schulen dramatisch zugenommen. Junge Jüdinnen und Juden erleben ihn im Unterricht. Sie sind allen Arten des Antisemitismus ausgesetzt, in und auch aus allen Teilen der Gesellschaft.
 

„Es scheint, als ob viele – besonders junge Menschen – den Antisemitismus nur in der Vergangenheit verorten.“
 

Der israelbezogene Antisemitismus war bereits vor dem 7. Oktober die vorherrschende Variante antisemitischer Situationen an Schulen; dies hat sich seit dem 7. Oktober noch verstärkt. An Universitäten werden jüdische Studierende, insbesondere jene, die sich mit Israel solidarisieren, von ihren Kommilitonen ausgeschlossen und stigmatisiert. Unter jüdischen Studierenden entsteht der Eindruck, nicht im Kollektiv, sondern alleine für ihren eigenen Schutz zu kämpfen. Es scheint, als ob viele – besonders junge Menschen – den Antisemitismus nur in der Vergangenheit verorten. Als ob sie vergessen, dass es hier in Deutschland eine lebendige jüdische Gemeinschaft gibt, die Schutz und Solidarität verdient.

IfT: Derzeit wird natürlich viel über Antisemitismus diskutiert, aber gerade in den sogenannten sozialen Medien, die ja zu den größten „Nachrichten“-Quellen der Jugend zählen, tauchen oft auch Begriffe auf wie „Israelkritik“, „Zionismus“ und „Antizionismus“. Was hat es mit diesen Begriffen auf sich?

Schuster: Hinter diesen Begriffen steht der Versuch den „althergebrachten“ Antisemitismus zu sublimieren und anschlussfähig zu machen für breite Teile der Gesellschaft. Unter Zionismus wird die jüdische Nationalbewegung gefasst, unter Antizionismus versteht man die Ablehnung der Existenz Israels als jüdischer Nationalstaat. Und wenn Israel das fundamentale Recht auf Existenz in Abrede gestellt wird, als einzigem jüdischen Staat auf der Welt, dann ist auch das Antisemitismus.
 

„Viele junge Menschen können nicht zwischen „Fake News“ und tatsächlichen Nachrichten unterscheiden. Die Schule ist hierfür ein zentraler Wissensort.“
 

Jugendliche sind im Moment ganz vielen ungefilterten Informationen über TikTok oder andere Social-Media-Kanäle ausgesetzt. Einige von Deutschlands reichweitenstärksten Tiktokern und Social-Media-Persönlichkeiten verbreiten Hetze gegen Israel. Ihre meist sehr junge Zielgruppe ist oftmals mit den Hintergründen des Nahostkonflikts nicht vertraut und wird mit Falschinformationen und Hetze überhäuft. Es braucht Menschen, die das mit ihnen gemeinsam einordnen, die Räume schaffen, zum Beispiel in der Schule. Das ist gerade sehr akut und da besteht ein sehr großer Bedarf. Medienkompetenz muss erlernt werden. Viele junge Menschen können nicht zwischen „Fake News“ und tatsächlichen Nachrichten unterscheiden. Die Schule ist hierfür ein zentraler Wissensort.

IfT: Gerhard Brand, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VEB) beklagte, die „Spannungen“ an den Schulen träten durchaus nicht nur in der aktuellen Situation auf, sondern seien „die Folge der politischen Nachlässigkeit bei der konsequenten Bekämpfung antisemitischer Tendenzen in unserer Gesellschaft.“ Welche Maßnahmen würden Sie gerne sehen?

Schuster: Antisemitismus in den Schulen ist auch ein strukturelles Problem. Wir finden ihn in all seinen Erscheinungsformen, etwa auch mit Bezug auf Israel, und auch bei Lehrern selbst.
 

„Wir möchten die Lehrkräfte handlungs- und sprechfähig machen.“
 

In Lehrbüchern wird das Thema Judentum oftmals nur sehr rudimentär und fehlerhaft dargestellt. Judentum beschränkt sich dort oft auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. Es gab aber jüdisches Leben in Deutschland viele Jahrhunderte davor, und es gibt es glücklicherweise heute wieder. Das muss sich auch in den Schulbüchern und Unterrichtsinhalten niederschlagen. Wir möchten die Lehrkräfte handlungs- und sprechfähig machen. Gemeinsam mit Kultusministerkonferenz und der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten hat der Zentralrat 2021 eine gemeinsame Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule erarbeitet. Ein zentraler Punkt in dem enthaltenen Maßnahmen-Paket sind für alle Lehrkräfte schulart- und fächerübergreifende Fort- und Weiterbildungen zu Inhalten und Formen des Antisemitismus. Auf diesem Feld muss noch mehr passieren.

Weiterhin kann der Besuch einer KZ-Gedenkstätte helfen, Empathie zu entwickeln. Er muss von Lehrern angemessen vor- und nachbereitet werden.
 

„Aufklärung über Antisemitismus in all seinen Formen muss verpflichtend Teil der Ausbildung werden, und das schulart- und fächerübergreifend.“
 

IfT: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte noch im Oktober: „Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer bewusster machen im Kampf gegen Antisemitismus.“ Dabei bezog er sich sowohl auf die Ausbildung, als auch auf Fortbildungen. Was müsste aus Ihrer Sicht bei diesem Aspekt getan werden?

Schuster: Gerade nach dem 7. Oktober wurde deutlich, dass viele Lehrkräfte sich unsicher und überfordert fühlten, auf antisemitische Äußerungen und Handlungen ihrer Schüler zu reagieren. Auch wussten viele nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten und wie sie das Thema Israel im Unterricht bearbeiten sollten. Hier muss bereits im Lehramtsstudium angesetzt werden. Aufklärung über Antisemitismus in all seinen Formen muss verpflichtend Teil der Ausbildung werden, und das schulart- und fächerübergreifend. An der Universität Würzburg gibt es den Zusatzstudiengang antisemitismuskritische Bildung, der genau hier ansetzt und angehende Lehrer vorbereitet. So etwas sollte in der Breite angeboten werden.

IfT: Wie kann ich als Lehrkraft darauf reagieren, wenn ich antisemitische Einstellungen oder Vorfälle in meiner Klasse bemerke?

Schuster: Wichtig ist, dass so ein Vorfall nicht einfach stehen bleibt. Antisemitische Vorfälle müssen erkannt und benannt werden, sie dürfen nicht relativiert oder ignoriert werden, da damit den Schülern signalisiert werden würde, dass deren Verhalten akzeptiert wird.
 

„Wir dürfen nicht zulassen, dass aggressives, diskriminierendes Verhalten unwidersprochen bleibt.“
 

Die Lehrkraft, die einen antisemitischen Vorfall mitbekommt, oder auch andere Schüler, müssen sofort darauf reagieren. Hier sollte die Lehrkraft beispielsweise sagen: „Ich habe gehört, was Du gesagt hast. Das dulde ich nicht. Wir sprechen da jetzt drüber.“ Es ist von hoher Bedeutung, bei jedem antisemitischen Vorfall zu intervenieren und nicht aus Unsicherheit, Zeitmangel oder Furcht vor Eskalation „wegzuschauen“ oder „wegzuhören“. Wir dürfen nicht zulassen, dass aggressives, diskriminierendes Verhalten unwidersprochen bleibt.

Eine Meldepflicht antisemitischer Vorfälle in Schulen einzuführen, ist darüber hinaus längst überfällig.
 

„Eine Begegnung bewirkt, was tausend Bücher nicht leisten können.“
 

IfT: Für die meisten Jugendlichen findet jüdisches Leben, jüdischer Alltag meist nur im Religionsunterricht statt, aber kaum in anderen Fächern oder gar in ihrem Lebensalltag. Der Zentralrat bzw. die Jüdische Akademie hat ein Programm, das nennt sich „Meet a Jew“, wo jüdische Jugendliche und Erwachsene unter anderem an Schulen kommen, um, wie Sie schreiben, „das oft verfestigte Bild von Juden in der Gesellschaft aufzubrechen“. Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Angebot gemacht? Wie wird es von den Jugendlichen angenommen?

Schuster: Meet a Jew hat mittlerweile über 30.000 Menschen erreicht. Meet a Jew sagt auch ganz bewusst: Man darf alle Fragen stellen bei ‚Meet a Jew‘, das ist ganz wichtig. Es geht um den Dialog, um den Austausch auf Augenhöhe. Und darum, dass nichtjüdische Menschen überhaupt Juden persönlich kennenlernen und sich mit ihnen austauschen können. Und das wird von Jugendlichen sehr gut aufgenommen, wie die wissenschaftliche Evaluation des Programms zeigt. Denn eine Begegnung bewirkt, was tausend Bücher nicht leisten können. Tatsächlich ist es so, dass Meet a Jew seit dem 7.Oktober sehr viele Anfragen bekommen hat. Das zeigt, dass Lehrkräfte nach Möglichkeiten suchen, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen können, und Meet a Jew als eine Möglichkeit der Antisemitismusprävention betrachten. Gleichzeitig werden über das Programm jüdische Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer eigenen Identität gestärkt, was gerade in der derzeitigen Situation nicht zu unterschätzen ist.
 

„Antisemitismus sollte auch selbst zum Unterrichtsgegenstand werden, um diskriminierende Denkmuster zu durchbrechen.“
 

IfT: Derzeit werden, wie schon erwähnt, die Beratungsstellen mit Hilfsanfragen überhäuft. Solche Konflikte wie derzeit gibt es aber nicht zum ersten Mal, und wenn sie vorbei sind, wird allzu oft zum business as usual zurückgekehrt. Wie könnte oder müsste eine langfristige Antisemitismusprävention speziell an Schulen aussehen?

Schuster: Alle Teilnehmer des Schullebens, also natürlich Schüler, Lehrkräfte, aber auch die Eltern, können antisemitische Ressentiments und Vorurteile verbreiten. Diese Erkenntnis ist im Umgang mit Antisemitismus in der Schule sehr wichtig. Antisemitismus sollte daher auch selbst zum Unterrichtsgegenstand werden, um diskriminierende Denkmuster zu durchbrechen. Nicht jeder, der sich antisemitisch äußert, hat indes sofort ein geschlossenes antisemitisches Weltbild. Das bedeutet, dass mit Bildung und Aufklärung schon viel präventiv erreicht werden kann. Generell sollte in einer Schulgemeinschaft aktiv gegen Antisemitismus vorgegangen werden. Aus meiner Sicht ist die Entwicklung von Empathie gegenüber von Antisemitismus Betroffenen der wichtigste Schritt.

Die Bildungsverwaltung beziehungsweise Bildungspolitik kann selbst bereits viele Grundlagen setzen, um wirksam gegen Antisemitismus vorzugehen. Das reicht von den angesprochenen Fort- und Weiterbildungen für Lehrkräfte, der Sensibilisierung aller in Schule Tätigen oder der Übernahme der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus in den Schulbereich bis hin zur aktiven Förderung von Begegnungsprogrammen wie „Meet a Jew“, Kontakt zu Synagogen oder auch Austauschprogramme und Schulpartnerschaften mit Israel.

IfT: Vielen Dank für das Interview!

 

19.01.2024

 

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