(ps) In einer neuen Studie über die Karrierewege von Nichtakademikerkindern des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft und McKinsey gibt es Altbekanntes und Neues: bereits seit diversen Jahren weisen alle Studien zum Thema darauf hin, dass in Deutschland die soziale Herkunft bzw. akademische Prägung der Kinder –ebenfalls im internationalen Vergleich– eine zu große Rolle bei den Bildungs- und Karrierewegen spielt. So auch diese Studie. Allerdings zeigt die Studie daneben auf, daß die Zahl der Nichtakademikerkinder die auf Hochschulen wechseln einen Anstieg verzeichnen kann. Hinter die Problemanalyse der Studie läßt sich allerdings ein Fragezeichen setzen.
In der Studie "Vom Arbeiterkind zum Doktor - Der Hürdenlauf auf dem Bildungsweg der Erststudierenden" geht es um die Karrierewege von Nichtakademikerkindern verglichen mit jenen der Akademikerkinder. Es werden primär "die mentalen, kulturellen und finanziellen Hürden der Bildungslaufbahn" als Probleme ausgemacht. Denn blicke man auf jene, die als 'Arbeiterkinder' erfolgreich von der Schule ins Studium gewechselt haben, seien "sie in vielen Fällen ähnlich erfolgreich wie Akademikerkinder." Das Problem sei jedoch eben jener Wechsel von der Schule ins Studium, den viele nicht bewältigen (können), sowie, in geringerem Maße, zuvor der Wechsel auf eine "hochschulberechtigende Schule". Entsprechend liege der "Anteil der Kinder aus Nichtakademikerhaushalten an allen Studierenden" bei lediglich 48 Prozent, während "Nichtakademikerkinder aber 71 Prozent der Kinder" an Schulen ausmachen. Interessanterweise fallen die Studienautor*innen bei der Deutung dieses Mißverhältnisses, sieht man von den Finanzierungsschwierigkeiten ab, hauptsächlich auf Prägungseffekte durch das soziale Umfeld zurück: Mentale Barrieren (fehlende Rollenvorbilder, mangelnde Erfahrungswerte aus dem Umfeld), Kompetenznachteile ("Weniger lernstimulierende Haushalte") und Informationsdefizite werden neben der Finanzierung genannt.
Die Lösungsvorschläge belaufen sich mithin primär auf Informationskampagnen und individualisierte Unterstützungsprojekte wie "Studienpatenschaften". Hier liegt dann auch der Hauptvorwurf, den man dieser Studie machen könnte: die Schwierigkeiten der Kinder aus sozial schwächeren Verhältnissen werden individualisiert und, will man es überspitzen, den Kindern selbst zur Last gelegt. Die Frage nach strukturellen Problemen oder gar Diskriminierungen im Bildungssystem selbst wird praktisch nicht gestellt. Beispielsweise das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland, das schon seit Jahren als eines der großen Probleme für die soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems identifiziert ist, kommt in der Problemaufstellung überhaupt nicht vor. Ebensowenig Probleme in der Lehrer*innenausbildung, für welche die Soziologin Heike Solga festhält, dass diese "in ihrer derzeitigen Form nicht genügend auf Herausforderungen wie Chancenungleichheit, heterogene Schülerschaften, ungleiche Ausgangsbedingungen etc. vorbereitet."
Auch Solga kommt zu dem Schluss, dass es Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Studienkosten bzw. -finanzierung gibt. Dies "reicht jedoch allein nicht aus." Es müsse "bereits durch eine leistungsabhängige Gestaltung des Schulsystems die Anzahl der Studienberechtigten unter den Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten erhöht werden." Mithin fordert sie damit lediglich, das umzusetzen, was bereits der diskursive –bzw. theoretische– Anspruch des Schulsystems ist. "Wenn der Übergang nur nach den tatsächlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler erfolgen und sekundäre Herkunftseffekte (also der Einfluss von Lehrerinnen und Lehrern und Eltern auf die Entscheidung des besuchten Sekundarschultyp) ausgeschlossen werden würden, wären wir in Sachen Chancengleichheit ein wesentliches Stück weiter."
Bereits 1982 veröffentlicht der Bildungssoziologe Heiner Meulemann eine Analyse der sogenannten "Bildungsexpanison" (dem gezielten Ausbau des Bildungswesens zur allgemeinen Hebung der Bevölkerungsbildung und -qualifikation) in der jungen Bundesrepublik zwischen 1958 und 1979. Ein Fazit daraus ist, dass sich "die Beziehung zwischen sozialer Herkunft und Schullaufbahn" u.a. durch staatliche Investitionen in das Bildungswesen zwar "abgeschwächt" habe – "aber sie besteht nach wie vor." Dies steht in einem Missverhältnis zum "Selbstverständnis moderner Industriegesellschaften": "Soziale Positionen sollen nach Leistung und nicht nach Herkunft vergeben werden; 'Leistung' aber wird in einem erheblichen Ausmaß durch Zertifikate des Bildungswesens definiert." Das beschreibt den Kern eines Problems, welches seither noch nicht gelöst wurde.
Dies mag mit einer paradox anmutenden Erkenntnis zusammenhängen, die Hans-Peter Blossfeld und Yossi Shavit zehn Jahre später aus einer Ländervergleichsanaylse zum Thema ableiten: "Als allgemeine Schlussfolgerung des vorliegenden internationalen Vergleichs kann man die These der Modernisierungstheorie, dass die Bildungsexpansion zu größerer Gleichheit herkunftsbezogener Bildungschancen führt, auf den Kopf stellen: Die Bildungsexpansion scheint vielmehr die fortwährende Ungleichheit herkunftsbezogener Bildungschancen erst zu erlauben." Knapp 30 Jahre später ist das Problem noch immer nicht gelöst und die Studien gehen weiter. Treffend fasst dies Julia Klier von McKinsey zur aktuellen Studie zusammen: "Deutschland verschenkt nach wie vor zu viel Bildungspotenzial."
Nichtsdestoweniger lassen sich aus der Studie des Stifterverbandes auch einige erfreuliche Kennzahlen entnehmen. Die Übergangsquote der Nichtakademikerkinder von der Schule zur Hochschule habe sich seit der letzten Erhebung 2017/18 um nennenswerte 11 Prozent verbessert. Damit allerdings "liegt sie heute trotzdem bei nur 59 Prozent. Bei Akademikerkindern ist diese Quote mit 95 Prozent deutlich höher." Auch die "Erfolgsquoten von Nichtakademikerkindern und Akademikerkindern" an den Hochschulen haben sich zum Besseren angeglichen. So würden "76 Prozent aller Nichtakademikerkinder" ihren Bachelor-Abschluss erlangen, sowie "82 Prozent aller eingeschriebenen Akademikerkinder." Bemerkenswert auch: "Nichtakademikerkinder liegen beim Übergang zur Promotion mit einer Quote von 17 Prozent noch vor den Akademikerkindern." Mithin sei das "häufig bemühte Narrativ, dass Nichtakademikerkinder in den ersten Jahren an der Hochschule überfordert sind und dann das Studium abbrechen" durch die Datenlage nicht bestätigt.
Quellen:
https://www.presseportal.de/pm/18931/5050348
https://www.stifterverband.org/medien/vom_arbeiterkind_zum_doktor
Hans-Peter Blossfeld, Yossi Shavit: Dauerhafte Ungleichheiten. Zur Veränderung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen in dreizehn industrialisierten Ländern. In: Zeitschrift für Pädagogik Jg. 39, Heft 1, 1993, S. 25-52. Online: www.pedocs.de/volltexte/2017/11164/pdf/ZfPaed_1993_1_Blossfeld_Shavit_Dauerhafte_Ungleichheiten.pdf
Heiner Meulemann: Bildungsexpansion und Wandel der Bildungsvorstellungen zwischen 1958 und 1979: Eine Kohortenanalyse. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 11, Heft 3, 1982, S. 227-253.
Heike Solga, Rosine Dombrowski: Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung – Stand der Forschung und Forschungsbedarf. D. i.: Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 171, Düsseldorf 2009. Online: www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf