(ps) Schule im Ausnahmezustand: die Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie haben den Schulbetrieb auf den Kopf gestellt. In Zeiten von Lockdowns, Distanz- und Wechselunterricht ist aber auch das schulische Angebot selbst zusammengeschmolzen. Nach den ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 und in den folgenden Lockdowns wurde an vielen Schulen der Fokus auf die Hauptfächer Deutsch, Englisch und Mathematik gelegt, Fächer wie Kunst und Musik lagen vielerorts dagegen auf Eis. Dabei ist gerade während der Kontaktbeschränkungen die Förderung der eigenen Kreativität und künstlerischen Schaffens nicht nur schulisch, sondern auch psychologisch ausgesprochen wichtig.
Vor recht genau einem Jahr, im Januar 2021, hat Olaf Köller, Professor für Erziehungswissenschaften und Pädagogische Psychologie in Kiel, dem ZDF ein umstrittenes Interview gegeben. Darin forderte er mit Blick auf den Schulunterricht unter Pandemiebedingungen, hauptsächlich nur die Kernfächer zu unterrichten. Für die Zeit bis Ostern lautete sein damaliger Vorschlag für die Klassen 1-6 sogar, lediglich "sieben Stunden Deutsch und sieben Stunden Mathematik pro Woche" zu unterrichten, "aber mehr nicht." Das sei zwar "natürlich für viele Fächer nicht schön. Natürlich möchten [beispielsweise] die Musiklehrkräfte auch Musik unterrichten", es wäre aber auch mit Blick auf den nachzuholenden Schulstoff die beste Lösung.
Köller argumentierte: "ich denke, auch mit Blick auf den Lebensverlauf der Kinder und Jugendlichen: Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik sind prägend und zentral für die berufliche Karriere. Und dann muss man in dieser besonderen Zeit auch mal die Kröte schlucken, dass man auf einzelne Fächer verzichtet." Tatsächlich sind in einigen Bundesländern, bspw. in Sachsen, explizite politische Empfehlungen ausgesprochen worden, sich "auf die Absicherung des Unterrichts in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und ggf. in den naturwissenschaftlichen Fächern" zu konzentrieren. Auch in Bayern waren zwischenzeitlich Leistungserhebungen nur noch in Deutsch, Mathe und den Fremdsprachen verpflichtend.
Kritik an der Fächerbeschränkung
Der Bundesverband Musikunterricht (BMU) nahm derlei Vorgänge zum Anlass, um nachdrücklichen Protest hiergegen einzulegen. "Diese einseitige Auffassung von Bildung schadet unseren Kindern und Jugendlichen!", heißt es in einer Mitteilung des BMU. Der Verband verweist darauf, "dass laut OECD Lernkompass 2030 die 'Forschung bis heute nichts [kennt], das die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern in vergleichbarer Weise oder Dimension fördert wie Musik- und Kunstunterricht. Die Beschäftigung mit den Künsten hilft Lernenden auch, Empathie zur Stärkung von emotionalem Engagement, von emotionaler Verpflichtung und Beharrlichkeit zu entwickeln.'"
So radikal, wie von Köller vorgeschlagen, sah die Wirklichkeit dann nicht aus. Dennoch wurden in den vergangenen zwei Jahren viele sogenannte Nebenfächer jedenfalls zeitweilig gestrichen oder gekürzt, nicht nur Musik und Kunst, sondern auch beispielsweise Religion und Philosophie/ Ethik. Hinzu kommen zahlreiche Arbeitsgruppen, wie bspw. Schulband, Chor, Theater- oder Foto-AG. Damit sind all jene Fächer und Aktivitäten betroffen, die in besonderem Maße dazu beitragen, Reflexion und emotionale Verarbeitungsprozesse anzuregen. Entsprechend sieht der BMU auch eine Gefahr für "Menschen- und Persönlichkeitsbildung", wenn sich nur auf die Kernfächer konzentriert wird.
Auch die digitale Schule ist ein sozialer Raum
Eine jüngst veröffentlichte Studie weist darauf hin, dass insbesondere der digitale Distanzunterricht auch als sozialer, interaktiver Raum begiffen und gestaltet werden sollte – sowohl für größeren Lernerfolg, als auch für das psychische Wohlbefinden der Schüler*innen. Selbst ohne Lockdown sind die Möglichkeiten zum sozialen Austausch derzeit begrenzt und reglementiert. Insbesondere für Jugendliche, die sich schließlich mitten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung befinden, stellen die Pandemiebedingungen eine große Belastung dar. Umso wichtiger ist es, so die Studie, "Unterrichtsmethoden, die einen persönlichen Kontakt ermöglichen und Beziehungen aufrechterhalten", zu nutzen.
Wie hilfreich gerade in Coronazeiten die musischen Fächer sein können, hat beispielsweise die Baltic-Schule Lübeck vorgemacht. Hier wurde im Kunstunterricht dazu aufgerufen, das Thema "Covid-19 und was ein so kleiner Virus aus uns macht" zu bearbeiten – "denn Kunst ist auch ein Mittel diese Ausnahmesituation zu verarbeiten", wie die Schule auf ihrem Blog schreibt. Das Projekt war ein voller Erfolg. Süleyman aus der 8b malt ein Gefängnis und eine Schule unter einem Verbotszeichen. Dazu schreibt er: "Die Gefängniszelle soll unserer Zuhause darstellen, weil alle Geschäfte zuhaben und wir nicht so oft rausgehen können. Auch eine Schule mit einem Verbotsschild habe ich gezeichnet, weil man wegen des Coronavirus nicht in die Schule gehen darf. Die Sprechblase „Ich will wieder zur Schule“ zeigt, dass ich es nicht mehr aushalte, die ganze Zeit Zuhause zu bleiben / in der Zelle eingesperrt zu sein."
"Kinder brauchen Kultur zur Pandemiebewältigung"
Karin Prien, seit Jahresbeginn Präsidentin der Kultusministerkonferenz, konstatierte jüngst in einem Interview mit der Zeit, sie mache sich über "die psychosozialen Folgen [der Pandemiebedingungen] deutlich mehr Sorgen als [über] die Lernlücken". Gegenüber dem DLF Kultur erläutert sie diesen Gedanken weiter: "Wer sich vor Augen führt, dass Kinder und Jugendliche in besonderem Maße an der Pandemie und deren Bewältigung leiden, der weiß, dass sie auch Medien brauchen, mit denen sie das bewältigen können. Und die Kultur spielt da eben eine ganz große Rolle, Kunst, Musik." Kinder bräuchten die Möglichkeit, sich über Kunst im weitesten Sinne ausdrücken zu können, und so sei es "absolut entscheidend, dass Kinder und Jugendliche diesen Zugang [über die Schulen] haben."
Quellen:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/kreativitaet-und-schule-wo-bleibt-die-kulturelle-bildung-in-der-pandemie-dlf-kultur-872d6734-100.html
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-01/karin-prien-kultusministerkonferenz-praesidentin-schule-corona-bildungspolitik/komplettansicht
https://www.baltic-schule-lübeck.de/kunst-im-zeichen-des-corona-viruses-schuelerarbeiten-aus-dem-homeschooling-von-klasse-5-12/
https://idw-online.de/de/news786313