Verschwörungstheorien sind so alt wie die Geschichte selbst. Doch in den vergangenen Jahren haben sie ihre Form geändert: von politischen Thriller-Erzählungen um Macht, Geld und Einfluß, um CIA und Vatikan, haben sie sich gewandelt zu Teils bizarr anmutenden Phantasiegeschichten. Von der "flachen Erde" über "ChemTrails" bis hin zu "5G-Nano-Chips im Covid-Impfstoff" ist alles erdenkliche zu finden. In Zeiten der Corona-Verschwörungen haben diese Mythen Aufwind erfahren und dringen bis in den Klassenraum vor. Ein Überblick.
Jake Angeli, bekannt auch als "bison man" oder "QAnon-Schamane", wurde zu einem der Gesichter des unsäglichen Sturms auf das Kapitol in Washington. Mit Hörnern, Pelzkappe, nacktem Oberkörper und den Farben der US-Flagge im Gesicht stieß er auf den Fluren des klassizistischen Bauwerks Kriegsschreie aus und ließ sich bereitwillig ablichten. Angeli ist Vertreter der QAnon, ein rechtsextremes Verschwörungsnetzwerk, das unter anderem behauptet, eine globale Elite würde im Rahmen satanischer Praktiken aus dem Blut entführter Kinder ein "Verjüngungsserum" herstellen. Auch in Deutschland ist QAnon angekommen – Vegan-Koch Attila Hildmann vermutete einen solchen Menschenopfer-Altar im Pergamonmuseum, woraufhin es dort zu Zerstörungen kam. Jüngst sind Hildmann oder etwa der Musiker Xavier Naidoo auch mit Kommentaren zur "Corona-Diktatur" aufgefallen – laut Naidoo, ebenfalls ein Anhänger von QAnon, existiere die Coronapandemie nicht; laut Hildmann plane Merkel gemeinsam mit Bill Gates "einen globalen Völkermord".
Nun ist es nicht so, dass nur weil jemand etwas sagt oder twittert, es andere automatisch glauben. Die Resonanz auf solcherlei Figuren ist im Internet so disparat wie in der Wirklichkeit. Jake Angeli ist Gegenstand des Spottes, zahlreicher Memes, er resp. seine Verkleidung wurde sogar in einem satirischen Porno aufgegriffen. Hildmann wurde in ein Urlaubsphoto von Angela Merkel montiert, was einen Aufschrei unter seinen Anhänger*innen auslöste, bis klar wurde, dass es sich um eine Satire des "Postillon" handelt. Bereits 2014, also noch lange vor Corona, gründete Giulia Silberberger den satirischen Negativ-Preis "Der goldene Aluhut" für die "Verschwörungstheorie des Jahres". Eine Mehrheit geht also mit gesunder Distanz an diese Themen heran. Doch für manche sind diese Mythen und diese Menschen bare Münze, die die Welt durchschaut haben und die 'Wirklichkeit' endlich "richtig", meistens simpel, erklären.
"Dort, wo die eigenen Ängste gelagert sind, docken Verschwörungsmythen an", erläutert die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Beate Leinberger in der "taz". In einer immer komplexer werdenden Welt haben die Mythiker dann leichtes Spiel. Klimawandel, Coronakrise, das alles kann "wegerklärt" werden, wenn man nur die richtige Verschwörung findet. Die Angst wandelt sich, man ist nicht mehr eine einsame hilflose Person, sondern Teil einer klandestinen Elite, die die 'Wirklichkeit' durchschaut hat, im Unterschied zu den "Schlafschafen" – vom Englischen "sheeple" –, die nicht verstanden haben, was wirklich vor sich geht und quasi schlafend durch ihr Leben gehen. So wird die Welt übersichtlich, die Feinde klar erkennbar – für einige sehr attraktiv.
Entsprechend steigt auch der Beratungsbedarf: "Die Anfragen zum Umgang mit Verschwörungsideologien haben sich von 2019 bis 2021 mehr als verdreifacht und machen jetzt etwa ein Viertel aller Anfragen an uns aus", sagt Michael Sulies von der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus in Berlin. Diese Steigerung gelte auch für Anfragen im schulischen Zusammenhang. Zumeist bringen die Schüler*innen Verschwörungsmythen aus dem Elternhaus mit in die Schule. In selteneren Fällen eignen sie sich solcherlei Erzählungen aber auch aus eigenem Antrieb heraus an. In beiden Fällen aber ist der Umgang mit diesen Schüler*innen diffizil. Eine pauschale Deklassierung solcher Meinungen als Verschwörungsmythen lösen verstärkte Abwehrhaltungen aus, zugleich sind konstruktive Debatten kaum möglich, da die nötigen diskursiven Konsense fehlen: weder Wissenschaft noch (investigativer) Journalismus und schon gar nicht die Politik werden als Belege akzeptiert. Schließlich liegt es in der Natur einer Verschwörung, daß nichts ist, wie es scheint und alle unter einer Decke stecken.
Darüberhinaus gibt es zahllose Seiten im Netz, die den Anschein erwecken möchten, Nachrichten oder Informationen weiterzugeben, de facto aber Falschinformationen verbreiten. Hinzu kommen die Kanäle der sogenannten Sozialen Medien. Giulia Silberberger gegenüber der bpb: "Informationen sind durch das Internet immer und überall verfügbar und nie war es so leicht, Inhalte mit anderen zu teilen wie heute. Früher war das so: Wenn ich mich für etwas interessiert habe, musste ich bewusst auf eine bestimmte Webseite gehen, um darüber lesen zu können. Aber durch die sozialen Netzwerke kommen diese Theorien zu mir. Ich werde beispielsweise auf einen Post aufmerksam, weil ihn ein Freund von mir kommentiert hat. Ob positiv oder negativ, ist dabei egal. Er erscheint dann in meinem News-Feed. Viele Leute, die sich von diesem Post angesprochen fühlen, verbreiten ihn ungeprüft weiter. Eine Studie der Columbia University bei Twitter ergab, dass 59 Prozent der User Inhalte weiterteilten, ohne sie vorher selbst gelesen zu haben. Das macht es Fake News und Verschwörungstheorien leicht, sich in den Netzwerken auszubreiten."
Die Kinder, egal, ob man sie als "digital natives" oder "Homo medialis" fassen möchte, sind diesen Informationsströmen noch relativ wehrlos ausgesetzt. Mithin ist die Jugend und die Schule ja erst die Zeit und der Ort, um kritisches Denken zu erlernen. So ist es wichtig, in der Schule möglichst frühzeitig mit Unterrichtseinheiten zu Themen wie Fake News, Verschwörungsmythen, aber auch dem Umgang mit Sozialen Medien zu beginnen. Je früher kritisches Denken erlernt wird, desto weniger können Fake News & Co. später verfangen. Wenn das Kind schon in den sprichwörtlichen Brunnen gefallen ist, stellt sich die Lage naturgemäß schwieriger dar. Hier empfehlen die Expert*innen, einen konfrontativen Kurs zu vermeiden und auch anzuerkennen, daß der Glaube an solche Mythen eben Ängste befrieden können. Es wäre also zunächst zu fragen, welche Ängste durch diese oder jene Verschwörung adressiert werden und wie man die Ängste alternativ lösen kann. Neben Hilfestellungen durch Unterrichtsmaterialien (siehe Anhang) gibt es inzwischen auch erste Workshops und Fortbildungen für Lehrkräfte.
Auch Giulia Silberberger vom "Goldenen Aluhut" plädiert für eine kritische Mediennutzung und sieht dies praktisch als einzigen Ausweg: "Wir können sie [die Verschwörungsmythen] nicht komplett verhindern. Aber wir können die Medienkompetenz stärken und uns gegen Falschmeldungen und Hassreden positionieren. Es muss uns in Fleisch und Blut übergehen, dass wir das hinterfragen, was wir im Netz lesen." In Zeiten der Corona-Pandemie haben nun die Verschwörungsmythen besonders viele Blüten getrieben und selten hat die Gesellschaft einen derart polarisierten Eindruck gemacht. Umso wichtiger ist es, kontinuierlich für Aufklärung zu sorgen. Und in Zeiten von Filterblasen und Fake News kommt hier der Schule eine besonders wichtige Rolle zu.
Materialien:
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/medienpaedagogik/272702/materialien
https://www.zsb.uni-halle.de/download/didaktischer-koffer/unterrichtsreihen/corona-verschwoerungstheorien/
https://www.lmz-bw.de/medien-und-bildung/jugendmedienschutz/verschwoerungstheorien/verschwoerungstheorien-als-unterrichtsthema/
https://www.medien-in-die-schule.de/unterrichtseinheiten/meinung-im-netz-gestalten/modul-3-chemtrails-co-verschwoerungstheorien-im-netz/
https://jugend-und-bildung.de/arbeitsmaterial/verschwoerungstheorien/
Quellen:
https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/258213/der-goldene-aluhut
https://taz.de/Verschwoerungsmythen-an-der-Schule/!5771736/
https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.attila-hildmann-als-merkel-marionette-so-hat-der-postillon-macher-den-shitstorm-nach-seiner-satire-erlebt.1eaed1b3-4854-4ea7-a3c1-b2d3daf37c7e.html
https://www.spiegel.de/ausland/usa-sturm-auf-das-kapitol-qanon-schamane-jake-angeli-bekennt-sich-schuldig-a-f29d7707-a54d-40f4-96c3-79733ecf721a
Pirner, Manfred [ Hg.] et al.: Homo medialis: Perspektiven und Probleme einer Anthropologie der Medien. München 2003.