(hrs) Mancher Zuhörer wird den Atem angehalten haben. Der Braunschweiger Schulinspektor Albert Sattler nahm auf einer Lehrerversammlung 1897 kein Blatt vor den Mund und trug aus Berichten von Gewerbeaufsichtsbeamten vor:
- „Schulpflichtige Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren arbeiten gewöhnlich (im Druckgewerbe) nachmittags von 4 ½ bis 7 Uhr, Mittwochs und Sonnabends von 1 bis 7 Uhr mit halbstündiger Pause. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit dieser Kinder beträgt 18 bis 21, teilweise sogar 30 Stunden. (…) In der Stunde verdient das Kind 6 ½ bis höchstens 8 Pfennig.“
- „An anderer Stelle wird von Kindern erzählt, die bis 1 Uhr nachts Puppenschuhe kleben, Teigwaren drehen, „bis sie es nicht mehr aushalten“ …“ - Andere Kinder müssen "oft schon um 4 Uhr morgens anfangen und oft noch nachmittags nach 3 Uhr weiter arbeiten ..."
- Eine Untersuchung der Kinderarbeit in Braunschweig kommt u.a. zu dem Ergebnis: "Vor Beginn des Morgenunterrichts arbeiteten 35 % der erwerbstätigen Kinder".
- „Man wende nicht ein, dass das nur Einzel- und Ausnahmefälle seien; Semmel- und Zeitungsträger, Tütenkleber, Kegeljungen, Laufburschen, Hüter von Rollwagen, Blumen- und Streichholzverkäufer, Lumpensammler, Schraubendreher, Zigarrenwickler, Kravatten- und Säckenäher im jugendlichen Alter zählen in größeren Orten nach Hunderten, ja Tausenden.“
- Mädchen werden häufig "zur Verrichtung häuslicher Dienste und als Ausgeherinnen verwendet" oder mit Garten- und Feldarbeit sowie auch in der Industrie.
- „Aus dem Kreis Siegen wird berichtet, dass selbst 6 bis 7jährige Knaben 11-12 Stunden in einem Steinbruch des Tages Last und Hitze tragen müßten.“
- „In Charlottenburg sind 82,85 % der erwerbsmäßig beschäftigten Kinder gezählt, die am Sonntage arbeiten müssen.“
Eine Folge der Kinderarbeit: Die beschäftigten Kinder blieben häufig dem Unterricht fern.
Sattler verwies auch darauf: "Von 100 in der (Berliner) Strafanstalt Plötzensee internierten jugendlichen Gefangenen waren nicht weniger als 70 während der Schulzeit und 20 schon seit dem 7. bis 9. Lebensjahre (...) beschäftigt."
Kein Wunder: Vor 125 Jahren wurde die verstärkte Begrenzung der Kinderarbeit in Deutschland heftig diskutiert.
Konrad Agadh – einer der Väter des Kinderschutzes
Zu den politischen Pionieren für strengere Kinderschutzgesetze gehörte seinerzeit Konrad Agahd, 1867 in Neumark (Pommern) geboren. Im Jahr 1894 veröffentlichte er eine Studie zur Kinderarbeit in Rixdorf (heute ein Ortsteil vom Berliner Bezirk Neukölln). Von 3287 erfassten Rixdorfer Kindern gingen 660 einer Nebenbeschäftigung nach. Also jedes fünfte Kind. Zu den Tätigkeiten, die sie ausübten, gehörten auch die der Tierschlächter, Weber und Kellner. Zum Teil waren sie bis um Mitternacht bei der Arbeit.
Im Jahr 1902 verlangte Agahd, selbst Pädagoge und Schriftsteller, das Verbot jeder Sonntagsarbeit von Kindern und das Verbot jeder Beschäftigung von Jugendlichen in gesundheitsgefährdenden Betrieben. Vor allem seinem unermüdlichen Wirken wird das Kinderschutzgesetz von 1903 zugeschrieben. Nicht all seinen Forderungen wurde jedoch entsprochen; namentlich die landwirtschaftlichen Großgrundbesitzer leisteten hartnäckigen Widerstand gegen weitergehende Beschränkungen. Konrad Agahd gilt heute als einer der „Väter des Kinderschutzes“.
Sattler: „Zustände und Verhältnisse, die jeder Beschreibung spotten“
Sattler führte den in Braunschweig versammelten Lehrern vor Augen: „Vater und Mutter verlassen oft schon morgens um 5 oder 6 Uhr das Haus und bleiben bis 7 Uhr abends fort. Die Kinder, sich selbst überlassen, werden weder zur Ordnung und Reinlichkeit, noch zu Fleiß angehalten.“ Nach seinen Kenntnissen betrug der Anteil der erwerbstätigen Kinder zwischen zwischen 18 % und 33 % eines Jahrgangs. Und er kommentierte: „Es ist leider nur zu wahr, in manchen Familien unserer arbeitenden Bevölkerung herrschen Zustände und Verhältnisse, die jeder Beschreibung spotten …“
Oft sei es wirtschaftliche Not, die die Kinderarbeit gebierte, informierte Sattler. Ihm seien aber auch Fälle bekannt geworden, in denen die Leute ein gutes Auskommen hatten, "aber die Kinder müssen doch mitverdienen, und ihre Kraft wird dabei in der gewissenlosesten Weise ausgebeutet."
Erstes Arbeitsschutz wurde 1839 erlassen
Die Ideen des Arbeitsschutzes für Kinder generell gehen in Deutschland namentlich auf den Oberpräsidenten der preußischen Rheinprovinz Carl von Bodelschwingh (1800-1873), der 1835 eine Verordnung zum Schutz der Kinder forderte, und den Barmer Fabrikanten Johannes Schuchard (1782-1855) zurück. Auf ihre Initiativen hin erließ der preußische Provinziallandtag eine Petition, aufgrund derer der Staat 1839 ein „Regulativ über die Beschäftigung Jugendlicher Arbeiter in den Fabriken“ verfügte. Die Arbeit für Kinder unter neun Jahren wurde verboten und für neun- bis sechzehnjährige die Arbeitszeit auf zehn Stunden begrenzt. Das erste Arbeitsschutzgesetz war geboren. In der Reichsgewerbeordnung hieß es zum Ende des 19. Jahrhunderts: "Kinder unter 13 Jahren dürfen in Fabriken nicht beschäftigt werden."
Durch allerlei List, so Sattler, würden viele der neuen Normen jedoch umgangen. Seine Einschätzung: "Es sei also durchaus nötig, dass entweder ein volles oder ein bedingtes Verbot der gewerblichen Kinderarbeit seitens des Staates erlassen würde."
Die Kinderarbeit wurde mitunter auch als Mittel früher Berufsorientierung verstanden. In einem Bericht über Volksschulen in Leipzig (1892/93) heißt es: "Viele Kinder sind durch ihre Arbeitsposten und dergleichen frühzeitig an Arbeitssamkeit gewöhnt ..."
Quellen:
Albert Sattler, In welcher Richtung und in welchem Umfange wird die Jugenderziehung durch gewerbliche und landwirtschaftliche Kinderarbeit geschädigt?, in: Pädagogische Monatshefte, 1898, Heft 5, Seite 234ff
Konrad Agahd, in: Wikipedia-Lexikon: https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Agahd