(hrs) „Corona-Pandemie: Wie verändert sie unsere Gesellschaft?“, fragt die Bundeszentrale für Politische Bildung auf ihrer Homepage. Die These dieses Beitrages: Allgemein verstärkt sich einerseits ein Trend zum Unverbindlichen, der andererseits Sehnsüchte nach (scheinbarer) Verbindlichkeit nährt – auch mit Folgen für die Bildung.
Der modernen (indirekten) Kommunikation wohnt ein Impetus zum Unverbindlichen inne. Die täglich zwanzig, dreißig, fünfzig und mehr digitalen Kontakte entbehren vielfach der höheren Zuverlässigkeit, die den eher wenigen persönlichen Beziehungen von miteinander vertrauten Menschen zugrunde liegt. Im Zuge der weiteren Technisierung der zwischenmenschlichen Kommunikation wird der Anteil des eher unverbindlichen Miteinanders zunehmen. Durch die Corona-Pandemie sprießen allerorten digitale Projekte wie Pilze aus dem Boden.
„Ein Bild lügt mehr als tausend Worte“
Die vage Verbindlichkeit mittelbarer Kommunikation ist schon immer ein Problem gewesen. Wie wahr sind Nachrichten, die uns über zwei oder drei Ecken, die uns über weite Entfernungen, die uns in Hülle und Fülle zugespielt werden? „Ein Bild lügt mehr als tausend Worte“, titelt – ein Beispiel unter vielen – die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung gerade auf ihrer Webplattform. Weiter heißt es: „Jahrzehntelang galt die Fotografie als ultimatives Abbild der Wirklichkeit.“ Der Schriftsteller Kurt Tucholsky formulierte in diesem Sinne vor rund 100 Jahren: „Und weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend Worte, so weiß jeder Propagandist die Wirkung des Tendenzbildes zu schätzen: von der Reklame bis zum politischen Plakat schlägt das Bild zu […] und sagt […] eine neue Wahrheit und immer nur eine.“
Schon damals, besser: „schon immer“, werden Abbildungen – vor der Fotografie waren es gemalte Bilder oder Denkmäler – verändert, retuschiert, bearbeitet, um bestimmte Botschaften gezielt zu vermitteln. In den Worten der Landeszentrale: „Bilder sind keineswegs bloße Abbilder der Wirklichkeit, sondern werden häufig genutzt, um falsche Informationen und Eindrücke zu verbreiten und so die vermeintliche Realität nach dem eigenen Willen zu gestalten.“ Und noch deutlicher: „Vor allem in den Sozialen Medien (z.B. auf Facebook, Twitter oder Instagram) werden Bilder jedoch oftmals zur gezielten Manipulation der öffentlichen Meinung und zur Verbreitung von falschen Informationen genutzt (…).“
Schriftlich Verbriefung von Rechten ein Werk des Satans
Vor 200 Jahren erschien bezeichnenderweise der Trend zur schriftlich-verbindlichen Verbriefung von staatsbürgerlichen Rechten, zum Konstitutionalismus, den willkürlich, den unverbindlich regierenden absoluten Monarchen wie ein Werk des Satans. Der Despot Zar Alexander I., und ein Gehilfe des damaligen Machtsystems, der österreichische Staatskanzler Metternich, setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um den „Umtrieben“ hin zu Verfassungen ein Ende zu bereiten. Ein Spitzelwesen wurde gegen Oppositionelle installiert, das eine Blaupause für die Stasi gewesen sein könnte. Um ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen, engagierten die Monarchen auch agent provocateurs – die darauf abzielen, die Realität zu entstellen.
Bezeichnenderweise ging es den Absolutisten darum, verbindliche (rechtsstaatliche) Regelungen zu verhindern. Man könnte heute zugespitzt fragen: Ist der moderne Trend zur Unverbindlichkeit ein Nährboden für „neue Absolutisten“?
Das Internetzeitalter ist Anfang der 90er Jahre enthusiastisch gefeiert worden. Die Demokratie werde gestärkt. In rosaroten Farben sind viele Bilder von der Zukunft angefertigt worden. Heute fordern Internetaktivisten nicht zuletzt mehr Verbindlichkeit. Allen voran Greta Thunberg. Angesichts der globalen Klimaveränderungen postuliert sie verbindliche politische Festschreibungen für eine naturschonende Handlungsweise der Menschen, der Staaten, der Wirtschaft.
Zugleich verhalten sich solche Initiativen zwiespältig zur Verbindlichkeit. „Dass Jugendliche zivilen Ungehorsam zeigen und sich so in die Gesellschaft einmischen, hat eine lange historische Tradition“, erklärt der schweizerisch-schwedische politische Philosoph David Fopp in einem Zeitungsinterviw. Er fügt hinzu: „Der Grundsatz dieser Bewegungen ist stets die feste Überzeugung: Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das geschriebene Gesetz.“ Der letzte Satz könnte aus dem Basiswortschatz von allen – aus Sicht der Umweltaktivisten – unverantwortlich handelnden „Klimakillern“ stammen.
Social Distancing entspricht nicht dem menschlichen Wesen
Kürzlich wies die Münchner Philosophin Ophelia Deroy mitten in der Coronavirus-Krise - mit Ausgehverboten und Abstandsregeln - auf ein Dilemma hin: „Wie gut und wie lange die sozialen Bedürfnisse online befriedigt werden können, bleibt abzuwarten.“ Die Politik, mahnte sie gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern, müsse berücksichtigen, dass die Aufforderung zu Social Distancing nicht nur politisch sehr ungewöhnlich sei, sondern dem menschlichen Wesen kognitiv und evolutionär nicht entspreche.
David Fopp plädiert in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung für das Schaffen neuer Räume für den sozialen Austausch, er verficht das „Konzept einer dynamischeren Demokratie“. Man suche nach Orten, wo Austausch stattfindet und auch diejenigen Gehör finden, die ansonsten außen vor bleiben. Fopp zitiert einen Lehrer, der für das Beste die Orte einschätzt, wo "man intuitiv zusammenarbeitet und Beziehungsverhältnisse ausprobiert, die auf Vertrauen aufbauen.“
Vertrauen ist die Währung erfolgreicher Kommunikation
Stichwort Vertrauen. Vertrauen ist die Währung einer erfolgreichen Kommunikation schlechthin. Nur auf der Basis von Vertrauen, argumentierte der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann lange vor der Digitalisierung, sei der Mensch zu weitreichendem sozialen Handeln fähig: „Vertrauen sammelt sich an als eine Art Kapital, das (…) aber auch laufend benutzt und gepflegt werden muss und den Benutzer auf eine vertrauenswürdige Selbstdarstellung festlegt …“ Der Vertrauensgedanke begründe nicht zuletzt das gesamte Recht, "das gesamte Sicheinlassen auf andere Menschen".
Sehr ähnliche Worte - „Gelernt wird hier konkret das Sich-Einfühlen in andere, der Umgang miteinander innerhalb einer Gruppe" - gebraucht David Fopp, wenn er von seinen Orten und Räumen spricht, die notwendig seien. "Also das, was die Voraussetzung wäre für eine andere, stärker responsive Form von Demokratie.“ Bietet diese Orte nicht schon die bestehende Verfassung? Wie auch immer man das sieht: Es ist fürwahr ein lohnenswertes Bildungsprojekt.
Vertrauen basiert auf einer maßvollen Verbindlichkeit. Läuft das aber nicht auf das Gegenteil von Social Distancing infolge Digitalisierung hinaus? Eine Gefahr von Social Distancing ist jedenfalls, dass sich "Absolutisten" gezielt unter verunsicherte Menschen begeben und diese für extrem verbindliche politische Ziele von extrem unzuverlässiger, vertrauensunwürdiger Qualität mißbrauchen möchten.